
Cyber-physische Zwillinge: Wie digitale Modelle Effizienz steigern
Justus Schuster
Sat May 31 2025

Inhaltsverzeichnis
In den 1970er Jahren hatte die Raumfahrt ein fundamentales Problem: Raumfahrzeuge konnten nach dem Start nicht mehr physisch betreut oder gewartet werden. Die NASA entwickelte deshalb sogenannte „mirrored systems“ – exakte Nachbildungen ihrer Raumfahrzeuge auf der Erde, die es ermöglichten, deren Zustand virtuell nachzuvollziehen und Lösungen in Echtzeit zu simulieren.
Ein besonders bekanntes Beispiel ist die Apollo-13-Mission. Nach einer Explosion an Bord war schnelles, präzises Handeln gefragt. Die Techniker am Boden nutzten das digitale Spiegelbild des Raumschiffs, um Szenarien durchzuspielen und schließlich die sichere Rückkehr der Crew zu ermöglichen.
Aus diesen Anfängen entwickelte sich über die Jahrzehnte ein technologischer Ansatz, der heute unter dem Begriff „Digitaler Zwilling“ bekannt ist. Er ist längst nicht mehr nur für Weltraummissionen relevant:
Digitale Zwillinge haben sich in den letzten Jahren zu einer Schlüsseltechnologie entwickelt. Sie ermöglichen es, physische Objekte und Prozesse digital abzubilden, zu simulieren und zu optimieren. Unternehmen nutzen diese Technologie, um Produktionsprozesse effizienter zu gestalten, Kosten zu senken und innovative Lösungen zu entwickeln.
Dieser Artikel erklärt die technologischen Grundlagen und zeigt anhand konkreter Beispiele, wie digitale Zwillinge in unterschiedlichen Branchen eingesetzt werden
Wie funktioniert ein digitaler Zwilling?
Ein digitaler Zwilling ist eine detaillierte digitale Nachbildung eines realen Systems. Er besteht aus mehreren Komponenten:
- Datenerfassung: Sensoren und IoT-Geräte sammeln kontinuierlich Daten über das physische Objekt. Dazu gehören Messwerte wie zum Beispiel Temperatur, Druck, Vibrationen oder Bewegung.
- Datenverarbeitung: Die erfassten Informationen werden mithilfe von Big Data-Technologien und Cloud-Plattformen gespeichert, analysiert und verarbeitet.
- Simulation und Modellierung: Algorithmen und physikalische Modelle ermöglichen es, das Verhalten des Systems in verschiedenen Szenarien zu simulieren.
- Optimierung und Steuerung: Das digitale Modell kann gezielt verändert und optimiert werden. Anpassungen lassen sich auf das reale Objekt übertragen, um Leistung und Effizienz zu verbessern.

Im Unterschied zur klassischen Simulation, die meist einmalig auf Basis hypothetischer Annahmen durchgeführt wird, ist ein digitaler Zwilling kontinuierlich mit seinem physischen Gegenstück verknüpft. Dadurch entsteht ein dynamisches Modell, das nicht nur analysiert, sondern auch aktiv auf Veränderungen reagieren kann. Während eine Simulation typischerweise im Vorfeld eines Projekts oder zur Überprüfung bestimmter Szenarien genutzt wird, begleitet der digitale Zwilling den gesamten Lebenszyklus eines Produkts oder Prozesses – von der Planung über den Betrieb bis zur Optimierung und Wartung.
Anwendungsbereiche und Praxisbeispiele
Digitale Zwillinge sind in vielen Branchen im Einsatz. Hier sind einige der wichtigsten Anwendungsgebiete mit konkreten Beispielen:
1. Fertigung und Entwicklung
Mit digitalen Zwillingen können Fabriken und Fertigungslinien im Voraus geplant und optimiert werden, um Zeit und Ressourcen zu sparen.
Beispiel: BMW nutzt digitale Zwillinge zur Simulation neuer Fertigungsprozesse. In Kooperation mit NVIDIA nutzt BMW das von NVIDIA entwickelte Omniverse. Damit können Fertigungslinien entworfen, geplant und getestet werden, Jahre bevor die Produktion startet. Dadurch sind sie später effizienter und können schneller und zuverlässiger implementiert werden, als wenn man sie traditionell planen würde.
BMW schloss außerdem eine Partnerschaft mit Dassault Systèmes, der Firma hinter PDM- und Designprogrammen wie SolidWorks, um Software zu entwickeln die mithilfe von digitalen Zwillingen Produktdesign und -konfiguration in Echtzeit möglich machen soll.
2. Wartung Vorraussehen
Digitale Zwilling sind in der Lage voraussagen darüber zu machen wann ein system gewartet werden muss. Dadurch können Systeme erst gewartet werden wenn es nötig ist und kostspielige Downtime vermieden werden. Eine Studie , die an einer Automobil-Fertigungslinie durchgeführt wurde, fand, dass durch den Einsatz von digitalen Zwillingen die Downtime um mehr als 87% reduziert werden konnte.
Beispiel: Airbus verwendet digitale Modelle für seine Flugzeugflotten, um Wartungszyklen zu optimieren. Die Sensoren in den Maschinen übermitteln Daten an das digitale Modell, das potenzielle Verschleißerscheinungen analysiert. So können Wartungsarbeiten genau dann durchgeführt werden, wenn sie nötig sind, anstatt nach festen Intervallen.
3. Gesundheitswesen
In der Medizin können digitale Zwillinge eingesetzt werden, um individuelle Patientenmodelle zu erstellen.
Beispiel: Siemens Healthineers entwickelt digitale Zwillinge für die personalisierte Medizin. Mithilfe von MRT- und CT-Daten können digitale Abbilder von Organen erstellt werden, mit denen Ärzte verschiedene Behandlungsszenarien testen können oder vorrausgesagte Erkrankungen vorbeugen oder gar verhindern können.
4. Infrastruktur und Smart Cities
Städte und Infrastrukturprojekte profitieren von digitalen Zwillingen zur besseren Planung und Steuerung.
Beispiel: Singapur hat eine vollständigen 3D Scan der Stadt erstellt. Dieses Modell wird genutzt, um den Verkehr zu optimieren, den Energieverbrauch zu analysieren und städtische Entwicklungen zu simulieren. Behörden können so gezielt Maßnahmen ergreifen, um Umwelt- und Verkehrsprobleme zu lösen.
Zukunftsperspektiven und Herausforderungen
Digitale Zwillinge werden sich in den kommenden Jahren weiterentwickeln und durch Fortschritte in Künstlicher Intelligenz, 5G und Edge Computing noch leistungsfähiger werden. Besonders in der Kombination mit autonomen Systemen und selbstlernenden Algorithmen eröffnen sich neue Möglichkeiten, um Prozesse vollständig zu automatisieren.
Kombination mit KI: Vom reaktiven Modell zur intelligenten Entscheidungsinstanz
Während klassische digitale Zwillinge physische Systeme abbilden und in Echtzeit überwachen, erweitert künstliche Intelligenz (KI) ihre Rolle erheblich: Durch Machine-Learning-Modelle werden nicht nur Zustände vorhergesagt, sondern auch autonome Entscheidungen getroffen.
In komplexen Produktionsumgebungen kann ein KI-gestützter Zwilling z. B. selbstständig Handlungsempfehlungen ableiten oder automatisiert Steuerungseingriffe vornehmen – basierend auf historischen Daten, aktuellen Zuständen und simulierten Zukunftsszenarien.
Damit entwickeln sich digitale Zwillinge von rein beschreibenden Systemen zu aktiven, intelligenten Akteuren im betrieblichen Entscheidungsprozess – eine Transformation mit enormem strategischem Potenzial.
Technologische Herausforderungen:
- 1. Hohe Implementierungskosten, da die Integration in bestehende Systeme komplex ist.
- 2. Notwendigkeit einer leistungsfähigen Infrastruktur zur Verarbeitung großer Datenmengen.
- 3. Fehlende Standardisierung erschwert die unternehmensübergreifende Nutzung digitaler Zwillinge.
Dennoch zeigen die erfolgreichen Anwendungsfälle, dass sich die Investition in digitale Zwillinge lohnt. Unternehmen, die frühzeitig auf diese Technologie setzen, können nicht nur ihre Betriebskosten senken, sondern sich auch entscheidende Wettbewerbsvorteile sichern.
Fazit
Digitale Zwillinge verändern die Art und Weise, wie Produkte entwickelt, gefertigt und genutzt werden. Sie ermöglichen präzisere Analysen, effizientere Prozesse und vorausschauende Wartung. Unternehmen wie Siemens, Airbus, und BMW haben die Technologie bereits erfolgreich integriert und profitieren von den Vorteilen.
Mit der Weiterentwicklung von Sensorik, KI und Cloud-Technologien wird der Einsatz digitaler Zwillinge in den nächsten Jahren weiter zunehmen. Wer früh investiert, kann nicht nur bestehende Prozesse optimieren, sondern auch völlig neue Geschäftsmodelle entwickeln.
